Maßlos, zwanghaft, abhängig
Erfolgreiche Sucht-Therapie durch langfristige Begleitung
Alkoholabhängigkeit, Nikotinsucht, Arbeitssucht, Beziehungssucht, Chatsucht, Co- Abhängigkeit, Essstörungen, Fernsehsucht, Handy- Abhängigkeit, Internetsucht, Kaufsucht, Mediensucht, Sammelsucht, Selbstverletzendes Verhalten, Sexsucht, SMS-Abhängigkeit, Spielsucht, Sportsucht etc.. Schnell gebrauchen wir diese Begriffe, wie ernsthaft gehen wir aber wirklich damit um? Und ziehen wir daraus Konsequenzen für uns und im Umgang mit unseren Mitmenschen? Sind wir Vorbilder oder verleugnen wir wie so viele andere? Gerade als Ärzte sollten wir der Wahrheit ins Auge blicken und diese auch vermitteln.
Hauptproblem ist das Leugnen der Krankheit
Historische Krankheitsbezeichnungen beschrieben meist nur das auffälligste Symptom. Der Schwindsüchtige "schwindet dahin", im Wassersüchtigen sammelt sich Wasser, der Fettsüchtige ist zu fett, der Gelbsüchtige verfärbt sich gelb, der Trunksüchtige trinkt zu viel. Der moderne Suchtbegriff im Sinne von Abhängigkeit bildete sich erst im 20. Jahrhundert. Anfänglich bezog er sich nur auf die Trunksucht, den Alkoholismus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Abhängigkeitsbegriff auf andere zwanghafte Ersatzhandlungen erweitert. Patienten können dabei ihrem Suchtverhalten ähnlich ausgeliefert sein wie Substanzabhängige. Diese Verhaltenssüchte werden – in immer neuen Varianten – nach der jeweiligen Handlung benannt: Spielsucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Kaufsucht, Esssucht, Internetsucht, Sportsucht, etc.. Für viele Abhängige muss die Befriedigung des Verlangens nach der Substanz (engl. Craving) möglichst sofort erfolgen. Vergangenheit und Zukunft verlieren häufig ihren bedeutungsgebenden Einfluss auf die Gegenwart. Zukunftsplanung reduziert sich oft zunehmend auf die Organisation der Abhängigkeit. Die Lebenseinstellung der erkrankten Menschen wird in vielen Fällen in übermächtiger Weise augenblickszentriert. Zur Abhängigkeitserkrankung gehört häufig das Leugnen der Krankheit vor sich selbst und anderen. Es werden manchmal simple ("ich trinke/rauche aus purem Genuss"), oft auch skurrile bis absurde Ausreden ("Mein Arzt hat mir mehrere Liter Bier am Tag für die Nieren verordnet") benutzt, um das eigene, durch die Abhängigkeit dominierte Verhalten zu rechtfertigen. Dazu gehört oft auch ein Relativieren und Bagatellisieren der konsumierten Menge und der Konsumhäufigkeit. Abhängige verlieren die Kontrolle über ihr Verhalten, das zum völlig maßlosen Verhalten führen kann. Der eigene Kontrollverlust ist für Abhängige meist beschämend, da sie scheinbar nicht (mehr) im Besitz ihrer vollen geistigen Kräfte sind, so dass es zu massiven Verleugnungen und Vertuschungen vor sich selbst und der Umwelt kommt (z. B. jedes Bier sofort bezahlen, damit man nicht wirklich weiß, wie viel man getrunken hat). Deshalb wird Kritik von außen als unangenehm wahrgenommen. Dies alles führt meistens zur gesellschaftlichen Isolation oder in gesellschaftliche Randgruppen. Sind entsprechend feste Strukturen im Leben vorhanden, wie eine Arbeit, so kann es vorkommen, dass Abhängige oft jahrelang nicht auffallen oder ein Doppelleben führen. Häufig wird das von der Abhängigkeit gesteuerte Verhalten von Freunden oder Familienangehörigen unterstützt, die dem Abhängigen viele Aufgaben abnehmen und nach außen Probleme leugnen, nahe stehende Verwandte und Freunde verfallen in coabhängige Verhaltensweisen und tragen so dazu bei, dass das Leben des Abhängigen nach außen lange Zeit "normal" funktionieren kann. Als Co-Abhängigkeit gilt auch, wenn man Verantwortung für das Verhalten des Süchtigen übernimmt, sein Verhalten rechtfertigt und sich seine/ihre Abhängigkeit nicht eingesteht. Co-abhängige Verhaltensweisen können auch bei professionellen Helfern auftreten. Abhängigkeit kann von mehreren Substanzen/Verhaltensweisen bestehen oder die Betroffenen verlagern die Abhängigkeit auf eine andere Substanz/ Verhaltensweise (Suchtverschiebung). Gesellschaftlich anerkannte Arbeit kann in Form von Workaholic als Deckmantel dienen, um einen "Kick" zu bekommen, während in der Freizeit ein anderer Suchtmechanismus" gelebt wird. Häufig bestehen zusätzliche psychische Erkrankungen wie Angsterkrankungen, Depressionen, Anpassungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen.
Die Flucht in die Sucht
Die vom materiellen Denken geprägten Gesellschaftsvorstellungen sind unfähig tiefste menschliche Bedürfnisse wie Liebe, Geborgenheit, Sicherheit, Kontakt und Beziehung zu nahestehenden Menschen sowie Selbstentfaltung in konstruktiver Abgrenzung von anderen angemessen zu befriedigen. Sie zwingen die Menschen quasi in sekundäre Konsumbedürfnisse auszuweichen. Die Konsumgesellschaft als Gesellschaft der Maßlosigkeit lebt von der seelischen Not ihrer Mitglieder. Sucht ist das übersteigerte Verlangen nach "etwas", das wir schmerzlich vermissen. Süchtige Menschen konsumieren maßlos das Falsche, wodurch sie versuchen, ihre gefühlsmäßige Befindlichkeit zu ändern. Das ist die treibende Sehn-Sucht. Das Suchtverhalten ist Mittel zum Zweck. Ihr heftiges Verlangen ist gespeist durch ihnen unbewusste Gefühle. Sie hungern im kalten Klima der "Mehrwert"-Gesellschaft. Sucht ist eine Beziehungskrankheit, die sich eben auch in den Familien zeigt und die Entwicklungsmöglichkeiten der Heranwachsenden massiv beeinträchtigt und ihnen letztlich kein stabiles Selbstwertgefühl ermöglicht. Entscheidend ist aber für die Struktur der Persönlichkeit eines Menschen, sowie für sein sich daraus entwickelndes bejahendes Lebensgefühl, die überdauernde Gewissheit, mit dem eigenen konstruktiven Handeln sein Leben positiv gestalten und andere Menschen emotional erreichen zu können und sich selbst und in der Resonanz anderer als liebenswert zu erleben.
Kasuistik
Eine 39-jährige Patientin sucht mich aufgrund einer Spielsucht auf. Erst sei sie nur einmal pro Woche in ein Casino gegangen, jetzt würde es sie fast täglich dorthin ziehen wie ein Sog. Sie habe schon Unmengen von Schulden angesammelt, was sie aber nicht zum Aufhören bewege. Es sei irgendwie schon egal. Sie habe keinerlei Kontrolle mehr, sei vom dem Gedanken beherrscht zu spielen, brauche diesen Rauschzustand, den sie beim Spielen empfinde. Sie habe sich sozial isoliert, Freundschaften würden sie gar nicht mehr interessieren und sie konstruiere ihr Leben um das Spielen herum. Ohne dies würde sie sich leer und wie erstarrt fühlen. Auslöser für die Symptomatik sei die Trennung von ihrem Ehemann gewesen, nachdem sie herausgefunden hätte, dass er während der Ehe fremdgegangen wäre. Bei der Trennung von ihrem vorhergehenden Partner sei sie magersüchtig geworden. Auch habe es immer wieder Episoden von Kaufsucht gegeben. Die Patientin sei als jüngste von zwei Geschwistern bei einer schwachen, jammernden, sich immer in der Opferrolle sehenden Mutter und einem demütigenden, autoritären, alle dominierenden Vater aufgewachsen, der die gesamte Familie terrorisiert hätte. Die Mutter habe sich dem Vater völlig unterworfen und sich bei der Tochter darüber beklagt. Die familiäre Atmosphäre wäre durch Abwertungen und Angst geprägt gewesen, ohne ein Gefühl von Halt, Wärme oder Geborgenheit bieten zu können. In dieser konnte die Patientin kein stabiles Selbst entwickeln, geriet in partnerschaftlichen Beziehungen in Mutteridentifikation selber in die Opferrolle und war ihr Leben lang innerlich auf der Suche nach emotionaler Sättigung, was sie vermeintlich in den Süchten fand.
Heilung ist möglich
Ein erster Schritt zur Heilung ist bei allen Suchterkrankungen die Einsicht. Erst wenn der Betroffene sich selber eingestehen kann, abhängig zu sein, kann ihm geholfen werden. Wie der Weg dann aussieht hängt stark von der eigenen Motivation, der Stärke und Vielfalt der Sucht ab sowie von der Art und Belastbarkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen. Insofern muss für jeden Suchterkrankten ein individuelles Konzept ausgearbeitet werden, das organische, soziale und psychische Aspekte mit einschließt und langfristig angelegt ist. Infrage kommen Psychosomatische Kliniken, ambulante Einzel- und Gruppentherapien, der Einbezug von Familienangehörigen und Partnern, Selbsthilfegruppen und medikamentöse Therapien. Oft ist ein langwieriger Persönlichkeitsnachreifungsprozess notwendig, um eine reife Autonomie der Betroffenen zur Entfaltung zu bringen.
Konzept gegen das Rauchen
Leider gibt es auch bei der Nikotinentwöhnung nicht die Methode der Wahl, da jeder Weg Vor- und Nachteile hat und bei jedem Menschen anders wirkt. Es ist aber sicher, dass auch das Rauchen nicht nur eine "Angewohnheit" ist, die einfach beendet werden kann. So sollte auch mit Rauchern wie mit anderen Abhängigkeitserkrankten umgegangen werde. Mit dem Abhängigen ist ein Behandlungskonzept auszuarbeiten, indem ihm die Methoden erläutert werden, die zur Verfügung stehen. Wie sonst auch ist die Methode zu wählen, von der der Patient selbst überzeugt ist. Meine Erfahrung zeigt, dass das Gelingen stark durch eine langfristige Begleitung durch den Hausarzt und durch Ärzte geleitete Gruppen unterstützt werden kann. Hinzu ist oft zu sehen, dass Eigeninitiative und Selbstreflektion als aktive Form des Selbsterlebens, das Selbstwertgefühl durch den eigenen Erfolg steigert, während Passivität und Erwartungen an ein Medikament dies nicht tun. Eine erfolgreiche Therapie.
- bietet einen neuen, überlagernden Lernprozess
- überwindet die Entzugserscheinungen und hilft das eigene Verhalten zu kontrollieren, um so einen Rückfall zu vermeiden
- ist lösungsorientiert (neues Umfeld, neues Kontakt- und Sozialverhalten)
- arbeitet – wo notwendig – auch an alten Verletzungen
- fördert ein stabiles Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Vernetzung von Hausärzten und Psychosomatikern
Die Zusammenarbeit zwischen den Hausärzten und den Psychosomatikern ist wie immer unerlässlich. Zum Einen müssen organische Symptome behandelt und kontinuierlich kontrolliert werden, um Verschlimmerungen zu verhindern. Zum Anderen aber müssen die Wurzeln der Erkrankung therapiert werden, was durch eine Integration von Information, tiefenpsychologisch fundierten und verhaltenstherapeutischen Elementen erfolgreich sein kann. Günstig sind Gruppentherapien nur für Patienten mit Süchten zusätzlich zu Einzelgesprächen, da die Patienten häufig Beziehungs- und Kontaktprobleme haben, die in Gruppen gut bearbeitet werden können. Dieses umfassende Konzept ist aber nur durch einen hohen Vernetzungsgrad und einen regen Austausch von Hausärzten und Psychosomatikern zu gewährleisten, um den Patienten gemeinsam Gesundheitsbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit zu vermitteln, deren Autonomie zu fördern mit dem Ziel von Medikamentenreduktion, Verhinderung von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der psycho-somatischen Lebensqualität mit verinnerlichter Lebensbejahung ohne Zerstörungspotenzial.
Wir müssen als Vorbilder fungieren
Präventive Maßnahmen im Sinne von Information und Aufklärung bezüglich Suchterkrankungen sind unerlässlich. Die Betroffenen müssen überhaupt erstmal erkannt werden und sich die Abhängigkeit selber eingestehen. Diese dann zur Behandlung zu motivieren ist schwer und gelingt oft eher über das Problem, das hinter der Sucht liegt. Schwieriger ist jedoch, überhaupt zu verhindern, dass immer mehr Menschen in der Konsumgesellschaft in die Sucht flüchten müssen. Und diesbezüglich müssen wir wieder als Vorbilder fungieren, menschliche Nähe eingehen und besonders der nachfolgenden Generation ein gesundes Selbstvertrauen mitgeben.
- Sucht ist eine Erkrankung und muss sehr ernst genommen werden.
- Sucht ist keine Disziplinlosigkeit.
- Die Patienten verleugnen und bagatellisieren ihre Abhängigkeit und reden aus Schamgefühlen kaum darüber.
- Anhand der Checklisten lässt sich eine Abhängigkeitserkrankung diagnostizieren.
- Betroffene bedürfen eines komplexen Therapiekonzepts, das die Integration von Hausärzten und Psychosomatikern voraussetzt und informative, organische, psychosomatische Behandlungsstrategien umfasst.
- Präventiv sollte unbedingt nach Suchtproblemen und nach dem Umgang mit den Kindern und deren Süchte gefragt und auf Gefahren hingewiesen werden.
- Wir alle sollten bewusst als Vorbilder fungieren.
Dr. med. Anna Goeldel
Fachärztin für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Ernährungsmedizinerin
E-Mail: dr@annagoeldel.de
www.annagoeldel.de