Depressionen "Wenn Sinnhaftigkeit, körperliche Integrität und Hoffnung sterben und quälende Selbstzweifel, körperliches Leid und Todessehnsucht kommen"

Depressionen! Sie gehören zu den häufigsten seelischen Erkrankungen. Rund 200 Millionen Menschen, 3-5% der Weltbevölkerung, sind nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO betroffen, wobei hier nur die von den Fachleuten diagnostizierten Krankheitsfälle eingeschlossen sind. In Deutschland leiden ca. 5% der Bevölkerung (4 Millionen Menschen) unter einer depressiven Störung. Davon suizidieren sich 11000 Betroffene. 2020 werden Depressionen der WHO zufolge die zweithäufigste Volkskrankheit sein.
Die Prävalenz in der Allgemeinpraxis liegt bei 10-20%.

Übersicht

  • Depression: Einführung, Diagnostik, Ursachen, Behandlung
  • Kasuistik 1: 52-jährige Pat., Trennung des Ehemanns
  • Checklisten: Symptome, Differenzialdiagnosen, Folgen der Depression
  • Zusammenarbeit Hausärzte und Psychosomatiker
  • Prävention
  • Fazit für die Praxis

Einführung

Die wenigsten Menschen kommen zu Ihnen als Hausärzte mit dem Wissen und der Akzeptanz, an einer Depression zu leiden. Sie erwähnen vielleicht im Nebensatz, dass "die Stimmung nicht so sei", "sie sich doch sehr gestresst fühlen" oder "nicht mehr soviel leisten könnten". Das wären noch eindeutige Hinweise, die aufgegriffen werden könnten. Meistens klagen die Menschen aber unter fluktuierenden unklaren somatischen Symptomen (Checkliste A), die immer wieder organisch abgeklärt werden und bei denen die Betroffenen von Facharzt zu Facharzt laufen. Aus Leidensdruck, Ohnmachtsgefühlen und Ängsten forcieren diese Menschen diese Überweisungen und zahlreiche technische diagnostische Untersuchungen häufig, auch da sie sich eher eine manifeste somatische Erkrankung wünschen, als eine Depression. Dies zeigt sich in den Aussprüchen wie "ich simuliere doch nicht" und " ich habe doch kein Macke" immer wieder deutlich. So erleben Sie als Hausärzte vielleicht auch öfter, dass sich der Betroffene - oft unbewusst - im Gespräch mit Ihnen gegen diesbezügliche Fragen und Andeutungen wehrt. Er hat Angst, was ja sehr verständlich ist. Für Sie als Hausärzte ist es daher manchmal schwierig und zeitaufwendig mit den Patienten darüber zu sprechen und sie zu motivieren, einen Facharzt für Psychosomatische Medizin aufzusuchen.
Dabei wäre es aufgrund der massiven biopsychosozialen und ökonomischen Folgen (Checkliste C) dringend notwendig, denn Depressionen sind Erkrankungen, die behandelt werden können.

Diagnostik

Jede Behandlung setzt eine umfassende Diagnostik im seelischen und körperlichen Bereich voraus. Eine Depression ist keine Ausschlussdiagnose. Die Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen (Checkliste B) müssen mit erfasst und in ein Gesamtbild eingeordnet werden.
Unterschieden werden in F32 und F33 {ICD 10} verschiedene Ausprägungsgrade (leicht, mittel, schwer), sowie der Verlauf (akute Episode, rezidivierend) von Depressionen (Tabelle 1) und die lang anhaltende Dysthymia (F 34).

Tabelle 1

Leichte Depression Oft kompensiert, die Betroffenen können unter großen Anstrengungen den sozialen Verpflichtungen noch nachkommen. (Psychosomatische Behandlung ohne Medikation) Mittelschwere Depression Die Funktionsfähigkeit ist z. Bsp. im Beruf stellenweise stark beeinträchtigt. (Kombination aus Psychosomatischer und medikamentöser Behandlung) Schwere Depression Soziale und berufliche Verpflichtungen können nicht mehr wahrgenommen werden. (Medikamentöse und Psychosomatische Behandlung)

Ursachen (*1)

Es wird allgemein von einem multifaktoriellen biopsychosozialen Erklärungsmodell ausgegangen. Dabei spielen genetische (familiäre Häufung), neurobiologische (Störung limbischer Neurotransmittersysteme) und somatische (vorausgegangene körperliche Erschöpfungszustände, schwere körperliche Erkrankungen, Wochenbett, Menopause) Risikofaktoren eine Rolle.
In der größten Zahl der Fälle aber ist eine psychosoziale Ätiologie für die Entwicklung der Depressionen verantwortlich, die psychosomatisch- psychotherapeutisch behandelt werden muss.

Behandlung

Die Behandlung ist abhängig von der Schwere der Erkrankung und lässt sich vereinfacht wie in Tabelle 1 darstellen.
Zunächst müssen den Patienten die Zusammenhänge zwischen den körperliche Symptomen und der depressiven Erkrankung bewusst gemacht werden. Dazu gehören Information, Entängstigung, Motivation und ein plausibles Konzept.
Psychodynamisch werden die innerpsychischen und interpersonellen Konfliktgeschehen vor dem Hintergrund der Biografie betrachtet. Die Persönlichkeit der Erkrankten ist häufig charakterisiert durch eine strenge Gewissensinstanz, hohe Ich- Ideal-Anforderungen, Altruismus, starke Abhängigkeits- und Bindungswünsche anderen gegenüber und aggressive Hemmung.
Als zentral werden bestimmte Konflikte früherer Lebensphasen angesehen, die nicht angemessen bewältigt wurden und bei "geeignetem" Auslöser (z. Bsp. drohender oder realer Verlust von Bezugspersonen, Destabilisierung von Selbstwert durch Kränkungen) eine krankmachende Wirkung entfalten. Die depressions- auslösende Konfliktsituation (z. Bsp. Ambivalenzgefühle wie Liebe und Hass, der sich dann gegen das eigene Selbst richtet) wird in der Therapie identifiziert. Dabei geht es vor allem darum, wie die betroffene Person subjektiv auf ihrem persönlichen Lebenshintergrund die Situation erlebt hat. In der Regel ermöglicht erst das Verständnis lebensgeschichtlicher Konfliktsituationen, die gefühlsmäßige Dimension des Aktualkonfliktes angemessen zu verstehen.
Verhaltentherapeutische Ansätze betrachten die depressiven Denk- und Verhaltensgewohnheiten vor dem Hintergrund der Lerngeschichte. Medikamentös stehen, wie Herr Dr. med. B. Palmowski (*2), Berlin in einem Übersichtsartikel darstellt, zahlreiche Präparate zur Verfügung, die unterschiedliche Wirkungsspektren haben. Bei Depressionen mit innerer Unruhe, Druck und Anspannung, mit Angst, mit Schmerzen oder mit Schlafstörungen ist das Mittel der Wahl Amitriptylin, bei Depressionen mit generalisierter Apathie und Adynamie, Imipramin oder Citalopram. Dabei sind die Dosen enorm entscheidend und unterscheiden sich von denjenigen, die in der Psychiatrie üblich sind: Die Aufdosierungsphase erfolgt vorsichtiger (z. Bsp. Amitriptylin 3 Tage 25mg, 3Tage 50mg, 3Tage 75mg, 3Tage 100mg bei Personen über 70kg) und die Erhaltungsdosis liegt im Allgemeinen niedriger. Auch das Absetzen einer Medikation sollte behutsam erfolgen (pro Woche 25% der Ausgangsdosis) und dem inneren Geschehen angeglichen. Regelmäßige Blutbild- und EKG- Kontrollen sind notwendig. Die medikamentöse Therapie ist integrativer Bestandteil der psychosomatischen Therapie und erfolgt als Unterstützung nicht als Ersatz psychodynamischer Therapieprozesse. Sie muss sich an diesen orientieren und sollte daher zwischen den Psychosomatikern und den Hausärzten und natürlich mit den Patienten engmaschig abgesprochen werden.

Kasuistik 1

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode{F33.1G}, Körperliche Erschöpfung{R53G}, Schlafstörungen{G47.0G}, Kopfschmerzsyndrom {G44.8G}, Schmerzen in den Extremitäten: Schulterbereich{M79.6G}, Schmerzen in der Lendengegend{M54.5G},Gewichtserhöhung{R53.5G}, Adipositas{E66.9G}
Die 52-jährige Patientin litt seit der Trennung des Ehemanns 2002 unter einer depressiven Symptomatik. Im Vordergrund standen körperliche Schwäche, Schmerzen im Kopf-, Schulter- und Rückenbereich, Schlafstörungen, eine Gewichtszunahme von 20kg, Konzentrationsstörungen, Leeregefühle und massive Selbstzweifel. Vor Therapiebeginn 2006 dekompensierte sie erneut stark depressiv im Kontext mit der vergeblichen Arbeitssuche, finanziellen Engpässen und dem Druck durch Hartz IV aus der zu großen Wohnung ausziehen zu müssen.
Auslöser der Symptomatik waren das Verlassenwerden durch den Ehemann und Jahre später der Arbeitsplatzverlust und der drohende Zwangs- Umzug. Im Kontext der frühkindlichen Genese konnte der deutliche Anpassungs- und Abhängigkeitsmechanismus an andere herausgearbeitet werden, ein fehlendes positioniertes ICH, so dass die Patientin im Gegenüber immer unkonturiert und wenig spürbar blieb. Das zeigte sich auch in der Therapie, wo diese Beziehungsdynamik gut besprochen und die dahinter liegende Aggressionshemmung und Verleugnung eigener Bedürfnisse im Zusammenhang mit der frühkindliche Genese bewusst werden konnten. Die Patientin konnte ihre eigene Wut zunehmend spüren, richtete diese nicht mehr gegen ihr eigenes Selbst, woraufhin sich die Symptomatik auflockerte und die Patientin im Gegenüber wesentlich fassbarer wurde. Dieser Nachreifungsprozess wirkte sich auf ihre Haltung, ihre emotionale Kontaktfähigkeit und Verhalten aus. Sie verliebte sich jetzt erneut in einen Mann, der im Gegensatz zu ihrem Ex- Ehemann Nähe zulassen kann und begann im Januar eine neue Arbeit in ihrem erlernten Beruf als Einzelhandelsverkäuferin. Eine medikamentöse Unterstützung war aufgrund der vertrauensvollen Bindung an die Therapeutin und die flexible Stundengestaltung mit anfangs mehrfachen Kontakten (zwischen 30 und 50Minuten) in der Woche unnötig.

Checklisten

1. Körperliche Reaktionen bei Depressionen

  • Körperliche Schwäche, Müdigkeit
  • Unruhe, Kribbeln, Ziehen im Körper
  • Zittern, kalte Hände oder Hitzewallungen
  • Appetitverlust oder Heißhunger
  • Schlafstörungen
  • Kopfschmerzen
  • Schmerzen im Nacken, im Schulterbereich, Rückenschmerzen
  • Schwindel, Augenflimmern
  • Kloßgefühl im Hals
  • Druckgefühl in der Brust, Herzstechen, -rasen, Hypertonie, schweres Atmen
  • Magendruck, Brechreiz, Reflux, Völlegefühl, Krämpfe
  • Diarrhöen, Obstipation
  • Abnahme sexuelles Verlangen, Potenz

2. Gefühle bei Depressionen

  • Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit,
  • Niedergeschlagenheit, Schwermut
  • Freudlosigkeit
  • Trauer, tränenlos oder ständig in Tränen ausbrechend
  • Pessimismus
  • Gequält, passiv, apathisch
  • Innere Leere, Gefühllosigkeit
  • Einsamkeit
  • Angst
  • Ratlosigkeit
  • Schuld
  • Minderwertigkeit
  • Gereiztheit

3. Gedanken bei Depressionen

  • Endlose Grübeleien im Kreis
  • Konzentrationsverlust
  • Schwarz / Weiß- Denken
  • Selbstvorwürfe
  • Entscheidungsschwierigkeiten, Zweifel
  • Selbstabwertungsspiralen
  • Sorgen machen
  • Suizidgedanken

4. Verhalten bei Depressionen

  • Antriebsmangel oder gestresst, getrieben, wie „unter Strom“
  • Sozialer Rückzug
  • Leistungsrückgang
  • Vernachlässigung von Hobbys
  • Alltagsbewältigung fällt schwer
  • Leise sprechen

B) Differenzialdiagnose/ Depressionen gehäuft bei

1. psychischen Störungen

  • Angsterkrankungen
  • Zwangsstörungen
  • Somatisierungsstörungen
  • Substanzmissbrauch
  • Alkoholismus
  • Anorexia und Bulimia nervosa
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Bipolare affektive Störungen
  • Schizoaffektive Psychosen
  • Schizophrene Psychosen

2. körperlichen Erkrankungen

  • Hormonstörungen z. Bsp. Schilddrüsenerkrankungen
  • Infektionskrankheiten (AIDS, TBC)
  • Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
  • Vitaminmangelzustände (z. Bsp. Vit. B1, B12)
  • Neurologische Erkrankungen z. Bsp. MS, M. Parkinson, Apoplex
  • Schwere Herz-, Lungen- und Lebererkrankungen
  • Tumorleiden

3. Medikamenteneinnahme

  • Schmerzmittel
  • Cortison
  • Antibiotika
  • Psychopharmaka
  • Antihypertensiva
  • Herzwirksame Mittel
  • Zytostatika
  • Drogen

C) Folgen von Depressionen

  • Leiden der Betroffenen an der Depression selbst
  • Suizide
  • Erhöhung des Erkrankungsrisikos für organische Erkrankungen wie z. Bsp. Herzinfarkt
  • Konsequenzen der Erkrankung für Partner, Angehörige und das soziale Umfeld
  • Direkte Kosten der Behandlung
  • Arbeitunfähigkeit, frühzeitige Berentung und daraus entstehende indirekte Kosten für das Wirtschaftssystem

Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Psychosomatikern

Die Patienten mit einer depressiven Störung bedürfen eines komplexen Behandlungskonzepts. Zum einen müssen die organischen Beschwerden ernst genommen und wenn nötig behandelt werden, um Verschlimmerungen zu verhindern. Zum anderen aber müssen besonders die Wurzeln der Erkrankung therapiert werden, was meiner Erfahrung nach nur durch ein auf den Patienten individuell abgestimmtes Therapiekonzept mit Flexibilität von Stundenanzahl und Stundendauer gelingen kann. Günstig sind Gruppentherapien, manchmal auch zuzüglich zu Einzelgesprächen, da die Patienten häufig Beziehungs- und Kontaktprobleme haben, die in Gruppen gut bearbeitet werden können. Dieses umfassende Konzept ist aber nur durch eine gute Zusammenarbeit und einen regen Austausch von Hausärzten und Psychosomatikern zu gewährleisten, um den Patienten gemeinsam Gesundheitsbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit zu vermitteln, deren Autonomie zu fördern mit dem Ziel von Medikamentenreduktion, Verhinderung von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der psycho- somatischen Lebensqualität der Menschen.

Prävention

Präventive Maßnahmen im Sinne von Information und Aufklärung sind bei depressiven Erkrankungen wichtig aber nicht ausreichend. Sehr hilfreich wäre es, wenn die Betroffenen überhaupt erstmal erkannt werden würden, da die meisten sich selber ihrer Erkrankung nicht bewusst sind und viele nur mit ihren somatischen Beschwerden oder Folgeerkrankungen beschäftigt sind. Diese zur Behandlung zu motivieren ist sicher oft nicht einfach. Schwieriger ist jedoch, überhaupt zu verhindern, dass immer mehr Menschen an einer Depression erkranken. Besonders wichtig ist dabei, dass die Heranwachsenden stabile Coping - Strategien entwickeln, die Selbstwert, Selbstvertrauen, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit sowie Selbstreflektionsvermögen und emotionale Intelligenz beinhalten. Ob wir ihnen das beibringen können, liegt an unseren eigenen Erfahrungen. So gesehen müssen wir uns reflektieren, damit sich unser Nachwuchs gesund entwickeln kann. Auch dies sollten wir unseren Patienten- den Eltern- nahe bringen und Hilfestellungen vermitteln.

Fazit für die Praxis

  1. Körperliche Symptome können Ausdruck einer Depression sein.
  2. Die Betroffenen wissen oft selber nichts von ihrer Erkrankung und reden verständlicherweise ungern über ihre Symptome, weil sie Angst haben und sich schämen.
  3. Wichtig ist die Entlastung der Betroffenen von Selbstvorwürfen: eine Depression ist eine Erkrankung.
  4. Anhand der Checklisten lässt sich die Depression diagnostizieren.
  5. Nach Suizidalität muss immer gefragt werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Suizids nimmt dadurch ab und es können frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden.
  6. Betroffene bedürfen eines komplexen Therapiekonzepts, das die Integration von Hausärzten und Psychosomatikern voraussetzt und organische und psychosomatische Behandlungsstrategien umfasst. Medikamente sollen nach Bedarf und Prozess eingesetzt werden.
  7. Präventiv müsste unbedingt nach den Kindern und den Umgang und den Schwierigkeiten mit diesen gefragt, auf Gefahren Aufmerksam gemacht und Hilfestellungen gegeben werden.

Literaturangaben:

1. P. L. Janssen, P. Joraschky, W. Tress: Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Deutscher Ärzte-Verlag.
2. B. Palmowski: Aspekte der Pharmakotherapie depressiver Syndrome in der Psychosomatischen Medizin. Ärztliche Psychotherapie und Psychosomatische Medizin 2:157-166,2007.

Mögliche Interessenskonflikte bestehen nicht.

Dr. med. Anna Goeldel

Zeitschrift: "Ärztliche Psychotherapie und Psychosomatische Medizin", 3/ 2007