"Nur Übergewicht" oder "manifeste Essstörung"?

Binge Eating Disorder wird oft nicht erkannt

Warum ist es für viele Menschen unmöglich, Gesundheitsbewusstsein zu entwickeln und danach zu leben? Sind es nur fehlende Konsequenz und Disziplinlosigkeit? Dass dem nicht immer so ist und sich hinter so manchem Übergewicht eine manifeste Essstörung im Sinne eines Binge Eating Disorder (BED) verbirgt, die einer umfassenden Therapie bedarf, ist den Betroffenen oft nicht bewusst.

Die Folgen von Übergewicht sind längst bekannt. Hausärzte sind täglich damit beschäftigt Diabetes, Hypertonien, Gelenkbeschwerden, Rückenschmerzen, Herzprobleme etc. zu behandeln. Wenn bei übergewichtigen Patienten alle differenzialdiagnostischen Überlegungen wie beispielsweise einige Stoffwechselerkrankungen, die Einnahme von Medikamenten wie Kortison (in höherer Dosierung) oder bestimmte Psychopharmaka, die das Problem erklären könnten, abgeschlossen sind, muss immer wieder über die Risiken informiert werden, um die Betroffenen zum Umdenken und zur Verhaltensänderung zu motivieren. Wie erkennt man, ob sich eine seelische Ursache hinter dem Übergewicht verbirgt?

  • Erstens können sich Gewichtsschwankungen z. B. im Rahmen von Depressionen, Zwangserkrankungen, Alkoholismus und Psychosen manifestieren.
  • Zweitens kann das Übergewicht aber auch auf eine Essstörung und zwar ein Binge Eating Disorder, dessen Symptome und Abgrenzungen zu anderen Essstörungen in den Checklisten aufgeführt werden, hinweisen. Zwei Kasuistiken sollen die zu Grundeliegenden Problematiken verdeutlichen:

Kasuistik 1

Eine Schülerin der 12. Klasse sucht mich auf, weil sie seit einem Jahr ständig die Schule schwänze, ihre Leistungen rapide abgenommen hätten, ihre Versetzung gefährdet sei und sie eigentlich nur noch esse und vor dem Fernseher sitze. Sie lebe mit ihrem neunjährigen Bruder bei ihrer Mutter in beengten Verhältnissen und in Geldnot. Die Mutter würde ständig meckern und rumschreien, sie für alles verantwortlich machen, mit dem Bruder überhaupt nicht zurecht kommen. Die Patientin müsse ihn quasi versorgen. Es gäbe meist Fertigprodukte, die die Patientin alleine in ihrem Zimmer vor dem Fernseher einnehmen würde. Die Mutter esse eigentlich nur nachts und habe wohl auch ein Essproblem. Der Vater der Patientin sei verschwunden.

Kasuistik 2

Die Studentin konsultiert mich, nachdem sie in den letzten drei Jahren trotz zahlreicher Diätversuche 40 kg zugenommen habe und sich körperlich immer unbeweglicher fühle. Obwohl sie mittlerweile Angst habe, weil sich organisch immer mehr Beschwerden einstellten und sie sehr quälten, könne sie ihr Essverhalten nicht ändern. Sie lebe mit ihrem Freund, dem sie alles Recht mache, im Eigenheim, das ihre Eltern finanziert hätten. Mit der extrem kränkbaren Mutter, die ihr seit Jahren zunehmendes Alkoholproblem, das organisch längst sichtbar geworden wäre, verleugne, bestehe fast täglich Telefonkontakt. Dieser bestehe darin, das Gewichtsproblem der Tochter zu erörtern, Diäten etc. zu empfehlen und regelmäßige Essenseinladungen auszusprechen. Der Vater sei beruflich oft auf Reisen, bagatellisiere die Alkoholthematik seiner Frau ebenfalls und sei auf Leistung fixiert.

Beide Patientinnen haben ein Essverhalten im Sinne einer Binge Eating Disorder (siehe Checklisten). Ausschlaggebend ist, dass das Essen eine Funktion bekommen und Suchtcharakter angenommen hat. Die Familienatmosphären sind in beiden Fällen wenig emotional fürsorglich. Wärme, Geborgenheit und Schutz fehlen. Die Patientinnen sind emotional "nicht satt" und versuchen, sich durch Nahrung zu sättigen und die Enttäuschungen und Defizite dadurch zu kompensieren. Beide sind sehr angepasst, verhindern aus Angst vor weiterer Ablehnung Konflikte, können eigene Bedürfnisse weder erkennen noch danach leben und haben bei geringem Selbstwertgefühl einen hohen Leistungs- und Perfektionsanspruch an sich selber. Die Essstörung ist nur die Spitze des Eisberges, der sichtbar aus dem Wasser ragt, und ist Ausdruck der darunter liegenden Problematiken, die den Betroffenen selber nicht bewusst sind. Die Symptomatik muss sozusagen entschlüsselt und verstanden werden.

Beide Patientinnen wirken nach außen auf den ersten Blick stark, selbstbewusst, ehrgeizig, intelligent und wenig hilfsbedürftig. Sie selber empfinden sich aber innerlich wertlos, leer und nicht liebenswert. Sie sind sich ihrer Identität unsicher, empfinden keinen Lebenssinn und können auf Geleistetes nicht stolz sein. Immer in der Angst vor Ablehnung gefangen, verhalten sie sich freundlich angepasst, kommen dadurch selber zu kurz und greifen kompensatorisch zum Essen, das jederzeit zur Verfügung steht. Dafür nehmen sie Selbstzerstörung in allen Facetten des Lebens in Kauf: organisch, seelisch und sozial. Es entwickelt sich ein Teufelskreis, von dem oft kein anderer etwas merkt, da die Patientinnen nach außen hin noch lange funktionieren. Das gestörte Essverhalten hat eine Funktion im Sinne einer Affektregulation bekommen, die bei den Betroffenen defizitär entwickelt ist. Essanfälle dienen der Regulation von Spannungen und negativen Emotionen, sie betäuben Ärger Einsamkeit, Langeweile, Kränkungen bei Kritik und Konfliktspannungen. Außerdem spielen psychosoziale Risikofaktoren in der Genese wie traumatisierende traumatisierende Erfahrungen, mangelnde Zuwendung durch die Eltern, psychische oder schwere organische Erkrankungen in der Familie, abwertende Kommentare in Bezug auf das Aussehen eine immense Rolle, die letztlich zu einem negativen Selbstund Körperkonzept führen.

Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Psychosomatik

Patienten mit einem manifesten Binge Eating Disorder bedürfen eines komplexen Behandlungskonzepts. Zum einen müssen die organischen Beschwerden ernst genommen, behandelt und kontinuierlich kontrolliert werden, um Verschlimmerungen zu verhindern. Zum anderen gilt es, die Wurzeln der Erkrankung zu therapieren, was durch eine Integration von tiefenpsychologisch fundierten und verhaltenstherapeutischen Elementen sowie ernährungsmedizinischen Aspekten erfolgreich geschehen kann. Erstes Ziel dabei ist die Reduktion der Essanfälle, sekundär erst die Gewichtsreduktion. Günstig sind Gruppentherapien nur für Patienten mit Essstörungen zuzüglich zu Einzelgesprächen. Die Patienten haben häufig Beziehungsund Kontaktprobleme, die in Gruppen gut bearbeitet werden können. Außerdem kann dort auch gegenseitige Motivationsarbeit geleistet werden.

Dieses umfassende Konzept ist nur durch gute Zusammenarbeit und einen regen Austausch von Hausärzten und Psychosomatikern zu gewährleisten, um den Patienten gemeinsam Gesundheitsbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit zu vermitteln und deren Autonomie mit den Zielen Medikamentenreduktion, Verhinderung von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der psychosomatischen Lebensqualität zu fördern.

Information und Aufklärung reichen nicht

Präventive Maßnahmen im Sinne von Information und Aufklärung sind bei der Binge Eating Disorder wichtig aber nicht ausreichend. Sehr hilfreich wäre, wenn die Betroffenen überhaupt erkannt würden, denn die meisten sind sich selber ihrer Erkrankung nicht bewusst und viele sind nur mit ihren Folgeerkrankungen beschäftigt. Sie zur Behandlung zu motivieren ist sicher oft nicht einfach. Schwieriger ist jedoch, überhaupt zu verhindern, dass immer mehr Menschen an dieser Störung erkranken. Es reicht es nicht aus, das Essverhalten unserer Kinder zu kontrollieren, sondern wir müssen Gesundheitsbewusstsein vorleben, für sie emotional da sein, sie wertschätzen, ernst nehmen, uns mit ihnen auseinandersetzen und ihnen Geborgenheit geben. Ob wir dazu in der Lage sind, liegt an unseren eigenen biographischen Erfahrungen. So gesehen müssen wir uns selber reflektieren, damit sich unser Nachwuchs gesund entwickeln kann. Auch dies sollten wir unseren Patienten nahe bringen und Hilfestellungen vermitteln.

Checklisten

Binge Eating Disorder (BED)

  • Heißhungeranfälle:
    große Nahrungsmengen in kurzer Zeit zu sich nehmen
    Kontrollverlust über das Essverhalten
  • Verhaltensindikationen bei Essanfällen:
    schnell essen
    solange essen, bis man sich unangenehm voll fühlt
    große Nahrungsmengen, ohne sich körperlich hungrig zu fühlen
    alleine essen, wegen der Schuldgefühle (große Mengen)
    danach: selbst angeekelt, depressiv, schuldig
  • Deutliches Unbehagen bzgl. der Anfälle
  • Mehr als 2 Anfälle pro Woche (über 6 Monate)

BED versus Adipositas

  • Regelmäßiges Fasten/ Diäten, früheres Übergewicht
  • Gewichtsschwankungen und Kcal- Zufuhr größer
  • Dissoziative Qualität
  • Auslöser: Affekte, Spannungen, Konflikte
  • Größere Sorgen um Gewicht und Figur
  • Ausgeprägter Selbstwertmangel
  • Häufig Komorbidität: affektive Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch

BED versus Bulimia nervosa

  • Beginn in Pubertät, 50 % vor erster Diät
  • Über 30% Männer
  • Höhere Genussfähigkeit beim Essen
  • 600- 3000 Kcal pro Anfall, Grazing
  • Kein Erbrechen
  • Bessere Prognose

Hinweis

Dr. med. Anna Goeldel
Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Ernährungsmedizin
Grolmanstr. 56, 10623 Berlin
E-Mail: dr@annagoeldel.de

Mögliche Interessenkonflikte: keine

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