Psychosomatische Primär-Prävention
Es besteht dringender Handlungsbedarf!
Nicht nur die demographische Entwicklung und die damit verbundenen hohen gesundheitsökonomischen Kosten und die Tatsache, dass immer mehr Kinder chronisch erkranken, lassen Präventionsprogramme in vielen Fachgebieten aus dem Boden sprießen. Selbst Politiker erkennen die Problematik und schreiben das Thema Prävention auf ihre Fahnen. Ernährungsberatungen, Rückenschulen, Herzprogramme etc. sollen dazu beitragen, präventiv schwere chronische kostenintensive Erkrankungen zu verhindern. Wie sieht es aber mit psychogenen Erkrankungen aus?
Längst ist weitläufig bekannt, dass die Arbeitsunfähigkeitszeiten,
die Anzahl der Erwerbsunfähigen und der Frühberentungen aufgrund seelischer
Erkrankungen in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sind.
Immer mehr Menschen leiden unter psychosomatischen Erkrankungen, an deren Verursachung
und deren subjektiver Verarbeitung psychosoziale Faktoren und/oder körperlich-seelische
Wechselwirkungen maßgeblich beteiligt sind.
Psychosomatische Primärprävention: Nutzen wird verkannt
Warum werden dahingehende psychosomatische Präventionskonzepte nicht schon
längst gesundheitspolitisch gefordert, etabliert und von den Kassen unterstützt
und gefördert, obwohl diese Erkrankungen doch dermaßen kostenintensiv
und langwierig sind? Auch suchen die Betroffenen häufig erst eine Vielzahl
von Ärzten auf, bevor die eigentliche Diagnose gestellt wird und die Ursachen
gefasst werden können.
Engagierte Kolleginnen und Kollegen starten immer wieder Versuche, Programme
zur Primär-Prävention durchzusetzen, kämpfen aber mit massivem
Gegenwind.
Nicht, dass sie inhaltlich nicht überzeugend wären, aber es geht um
die Kosten und um die Beweislage der Maßnahmen, die präventiv gegen
psychogene Erkrankungen helfen können.
Bei Erkrankungen wie Herzinfarkt sind die Risikofaktoren für alle plausibel:
Übergewicht, hoher Blutdruck, Diabetes, Bewegungsarmut etc. Also was hilft?
Zunächst einmal Änderungen des Life-Styles wie gesunde Ernährung,
Sport, Nikotinabstinenz etc. Diesbezüglich lassen sich Programme konkret
planen, Werte messen, Veränderungen statisch auswerten.
Aber wir wissen auch längst, dass eine Erkrankung wie Herzinfarkt besonders
viel mit der seelischen Verfassung, den inneren Haltungen und sozialen Lebensbedingungen
zu tun hat, sodass hier auch Primär-Prävention in biologischer, psychischer
und sozialer Hinsicht betrieben werden müsste.
Folgen psychogener Erkrankungen
- Aggressionen
- Konzentrationsverlust, eingeschränkte Leistungsfähigkeit
- Einsamkeit, sozialer Rückzug
- Lethargie, Antriebsarmut
- Starke Gewichtsschwankungen
- Essstörungen wie Anorexie, Bulimie, Binge Eating Disorder
- Zwanghaftes Verhalten wie Kontrollzwänge
- Selbst verletzendes Verhalten
- Verlustängste
- Übergriffigkeitserleben
- Schwere organische Erkrankungen
- Geringes Selbstwertgefühl, wenig Selbstvertrauen
- Kontakt-, Beziehungsprobleme
- Konfliktängste etc.
Als Psychosomatiker sind wir täglich damit beschäftigt, die erkrankten
Menschen zu behandeln, also erst dann einzugreifen, wenn das Kind eigentlich
schon „in den Brunnen gefallen“ ist. In den Therapien gehen wir
aber umfassend auf die Ursachen und Entstehungen der Symptome und Erkrankungen
und machen diese den Patienten bewusst. Im Vordergrund stehen hier Entwicklungsdefizite,
die aufgrund früher fehlgeschlagener emotionaler Bindungserfahrungen, Identifikations-
und Lernvorgänge in der Eltern-Kind-Beziehung entstanden sind. Ergo: Wir
wissen zum großen Teil, warum und wie sich psychogene Erkrankungen entwickeln,
manifestieren und chronifizieren.
Psychosomatische Primär-Prävention ist ein Thema, dem wir uns unbedingt
widmen sollten, um zu verhindern, dass immer mehr Menschen chronisch seelisch
erkranken, was in Zukunft mit Sicherheit auch nicht mehr bezahlbar sein wird.
Wie umfassend diese Präventionsprogramme aussehen müssten, ist bekannt.
Nur Informationsvermittlung reicht nicht aus. Wichtig wäre, den Schwerpunkt
der Präventionsmaßnahmen auf die Entwicklungsfördernde gesunde
emotionale Matrix, die ein Kind von Geburt aus benötigt, und die Eltern
dahingehend zu sensibilisieren.
Rezept gegen psychosomatische Erkrankungen: das Beherrschen sicherer Coping-Strategien
Einige Menschen sind für psychosomatische Erkrankungen genetisch mehr prädestiniert als andere, aber es handelt sich mit Sicherheit in der Regel nicht um angeborene Erkrankungen, die unausweichlich ausbrechen. Bekannt ist auch das die Kindheitsjahre besonders entscheidend sind und Erkrankungen durch misslungene Beziehungen fehlende positive Vorbilder, emotionale Überforderung, traumatische Ereignisse, fehlendem Schutz etc. in dieser Zeit getriggert werden und bei „geeignetem“ Auslöser ausbrechen.
Was bedeutet das jetzt konkret für die Primär-Medizin?
Wenn man stringent weiterdenkt kann man nur zu dem Schluss kommen, dass wir
den Ausbruch und die Entwicklung von seelischen Erkrankungen nur dann verhindern
und überflüssig machen können, wenn wir die Bedingungen so gestalten,
dass Kinder und Jugendliche sich innerlich qualitativ so stabil entwickeln können,
dass sie über sichere Coping.Strategien verfügen. Aber wie können
wir das vermitteln, vor allem wenn wir dieses nicht einmal für uns selbst
optimal gelernt und erfahren haben? Der Schlüssel kann doch nur darin liegen
zu wissen, dass unsere eigene Lebensgeschichte und unsere Erfahrungen unser
heutiges Verhalten und Handeln maßgebliche bestimmen.
Wir sollten uns daher trauen, uns nach unserer Lebensweise, unseren inneren
Haltungen, unserem Umgang mit den Kindern und Jugendlichen zu fragen. Wie sind
wir aufgewachsen? Was haben wir vermisst? Was wollten wir bestimmt nicht weitergeben
und tun es trotzdem? Was stellen wir für Anforderungen an die nächsten
Generationen? Welchen Leistungs- und Perfektionsdruck fördern wir? Benutzen
wir Liebesentzug als Strafe? Haben wir nicht auch Schwächen? Hinter welchen
Mauern verstecken wir uns?
Dürfen Emotionen sein oder tun wir schnell vieles als Gefühlsduselei
ab? Sind wir eigentlich wirklich autonom, authentisch, offen und verständnisvoll?
Können wir wirklich zuhören? Sind wir voller Misstrauen und Missgunst?
Und was steckt dahinter? Eigene Ängste? Selbstwertzweifel, die wir vertuschen
müssen mit Leistungen, Titeln, Anpassung, Quantität anstelle von Qualität?
Wäre es nicht möglich, uns durch Selbstreflektion in unserer Haltung
und unserem Handeln gegenüber anderen zu ändern? Vor allem in den
Familien wäre das entscheidend. Wenn wir verhindern wollen, dass unsere
Kinder in ihrem Leben seelisch dekompensieren, dann müssen wir unserem
Blickwinkel ändern. Sich selbst zu reflektieren und die Haltung und das
Verhalten zu ändern, ist sehr schwierig, da es auch um unbewusste Prozesse
geht. Insofern könnte es helfen, wenn dieser eigene Weg begleitet und unterstützt
werden würde.
Und zwar bereits vor der Geburt oder spätestens ab dem Zeitpunkt der Geburt
der Kinder.
Schwangerschafts- und ärztliche Untersuchungen von Säuglingen und Kleinkindern: Nicht nur auf körperliche Checks Wert legen!
Es gibt Kontrolluntersuchungen während der Schwangerschaft, um zu sehen,
ob alles regelrecht verläuft. Auch die Kinder erhalten im Laufe ihrer ersten
Lebensjahre festgelegte körperliche Checks und Impfungen, um Infektionskrankheiten
zu verhindern. Also, warum sollte es nicht auch regelmäßige Gespräche
zur Reflektion der familiären Atmosphäre und Beziehungsqualität
geben?
Dabei ginge es um Information, Selbstreflektion und Bewusstwerdung vom eigenen
Ich. Wir müssen die Kinder sättigen und zwar nicht nur biologisch,
sondern besonders auch emotional. Uns sie haben ein Recht darauf, so wie wir
dies auch hatten, als wir Kinder waren. Wenn wir sie emotional spiegeln, ernst
nehmen und antworten, sie mit Achtung und Respekt behandeln, die Grenzen liebevoll
und sorgsam setzen, sie schützen, aber nicht überbehüten, sind
sie innerlich qualitativ gewappnet und können dies weitergeben.
Bei der psychosomatischen Prävention geht es also zum einem um das Erkennen
von Risikofaktoren wie chronische Disharmonie, Desorganisation in den Familien,
fehlende psychosoziale Kompetenz, Gewalt, Missbrauch (v. a. auch emotionaler),
Überforderungen der Eltern sowie emotionale Verwahrlosung und das Etablieren
von Schutzfaktoren wie positiven emotionalen Bindungen, sozialer Integration,
Konfliktmanagement, Förderung von Selbstwert, Selbstvertrauen und Autonomie.
Umfassende, individuelle Programme für alle!
Letztlich muss es sinnvolle, transparente, umfassende und auf jeden abgestimmte Angebote für uns alle geben. Dies hört sich natürlich sehr teuer für unser Gesundheitssystem an, aber man sollte bedenken, dass die für unsere Gesundheits- und Sozialsysteme durch psychosomatische Erkrankungen bedingten Folgekosten immens hoch sind, z. B. infolge ambulanter und stationärer Behandlung chronischer körperlicher und seelischer Folgeerkrankungen, von Krankschreibungen, frühzeitigen Berentungen etc. Ein ausgearbeitetes Konzept zur psychosomatischen Primär-Prävention liegt dem Gesundheitsministerium bereits vor.
Dr. med. Anna Goeldel
(Zeitschrift: Arzt & Prävention, Dezember 2007)