Die Notwendigkeit der Sinnstiftung
Dr. med. Anna Goeldel / 2007 (für die Ruck- Stiftung: Stiftung des Aufbruchs)
"Man muss das Gute tun, damit es in der Welt sei."
(Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916))
Unsere Gesellschaft wird seelisch kränker und kränker. Das ist mittlerweile
mehr als bewiesen.
Krankschreibungen, Frühberentungen und Erwerbsunfähigkeiten aufgrund
seelischer
Erkrankungen nehmen drastisch zu. Keine Altersgruppe ist ausgespart. Besonders
auch Kinder sind häufig betroffen. Amokläufer, Übergewicht im
Kindesalter, Aggressivität,
Gewalt, die Resultate der PISA- Studie, zerbrochene Familien, Süchte etc.:
Alles das sind
Symptome der Gesellschaft, deren Signalcharakter wir nicht ernst genug nehmen
können.
Wir versuchen allerdings immer nur die Verantwortlichen zu finden und anzuklagen.
Politiker,
Ärzte, Lehrer, Erzieher etc..
Damit befinden wir uns aber in der Warteschleife! Warten auf Besserung von Außen,
auf
eine politische Wendung oder sonstige Veränderungen, damit wir diese Missstände
endlich
loswerden, führt zu nichts. Ta tsächlich werden wir immer unzufriedener
und kränker
Ich habe ein Schwerpunktpraxis für Menschen mit Essstörungen und
bin immer wieder
von der Tiefe, der Lebendigkeit, dem Einfühlungsvermögen und dem Mut
der Betroffenen
berührt, die anfangs diese ganze Energie in ihre Selbstzerstörung
lenken, mit solch einer
Massivität, die grausam ist. Sie alle zeigen uns, wie beziehungslos und
wenig emotional
sättigend die Menschen miteinander umgehen, wie wenig Achtsamkeit, Respekt,
Ernsthaftigkeit,
Verstehen wollen und Vertrauen unter uns Menschen und in den Familien besteht.
Es ist kurz vor zwölf und das sollten wir verstehen. Wir sollten gerade
diesen Menschen, die
sich uns mit ihren tiefen Grenzerfahrungen öffnen, wirklich mal zuhören,
um zu verstehen,
was um uns herum und in uns passiert.
Wir sind nicht dumm oder wenig aufnahmefähig! Wir verbrauchen unsere Energien
in anstrengendem Ringen um unser Selbstwertgefühl bei enormen Leistungsansprüchen,
Konkurrenzgefühlen, Ängsten vor Ablehnung und Kränkungen, ohne
wirklich Halt und Geborgenheit in unserer Familie und in uns selbst zu spüren.
Wir haben nur noch wenig Gefühl für unsere Bedürfnisse und wahren
Wünsche, da diese untergehen im Konsumüberangebot, der durch das Internet-alles-ist-möglich-Welt,
in der wir uns nicht mehr zu Recht finden und einer linearen Denkweise, die
das Nach- oben -kommen zum alleinigen Lebensziel hat.
Meine Patientinnen sitzen hier oft achselzuckend, ohne Sinngefühl, Visionen
oder Ziele.
Alles ist gleich- gültig, keine Leidenschaft, keine Begeisterungsfähigkeit.
Wieso? Wofür? So viel theoretisch möglich ist, praktisch ist das meiste
unmöglich. Da sieht es schlecht
aus mit Ausbildungsplätzen, Berufseinstiegen, Finanzen, Hobbys, Freunden,
Familienzusammenhängen,
die auch fast virtuell werden. Große Leere in ihnen. Ihr inneres Potenzial
wurde nicht entdeckt und gefördert und bleibt versteckt!
Vielleicht merken wir alle oft, dass wir manchmal ganz ähnliche Sinnlosigkeitsgefühle
haben,
uns zum Teil auch vergessen, abgelehnt, emotional verkümmert fühlen,
uns schnell
anpassen, um ja nichts falsch zu machen, einen Selbstverlust erleben oder ebenso
perfektionistisch,
leistungsbezogen und linear denken? Vielleicht fragen wir uns auch oft nach
unserem Sinn im Leben, fühlen uns leer und emotional unverbunden?
Wir sollten gemeinsam auf die Suche nach all der brach liegenden Lebendigkeit,
den Energien,
der Kreativität, den Meinungen, den Fragen, den Ideen, den Emotionen, der
Herzenswärme
in uns und in den anderen gehen! Trauen wir uns, dies zu leben. Unsere
Klugheit wird dadurch nur bereichert und strahlender. Und wir sättigen
uns emotional gegenseitig.
Wir brauchen einen grundsätzlichen Wertewandel. Selbstwert darf nicht
mehr aus Zahlen,
Körpermaßen, Geld, Autos, Faltenunterspritzungen bestehen, sondern
aus Authentizität,
Lebendigkeit, emotionalem Facettenreichtum, Empathievermögen, innerer Freude,
geben
und lieben können. Das ist Schönheit uns und macht Klugheit aus!
Dass ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin in keinster Weise gegen Leistung,
Arbeit,
Wissenshunger, Ehrgeiz, Grenzsetzungen und Äußerlichkeiten, aber
nicht, wenn diese
Qualitäten als einzige Kontaktmöglichkeit, als Vorraussetzung des
Geliebtwerdens,
als Manipulationsfaktor, als Funktion zur Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls
und als
Identität des Selbst fungiert!
Das haben wir doch nun lange genug ausprobiert und es klappt doch nicht und
macht
krank!
Wir müssen uns gegenseitig schützen und die nächsten Generationen
achtsam und gefühlvoll
mit unserer ganzen Verantwortung begleiten.
Dass das für uns nicht einfach ist, ist klar, da viele von uns dies auch
nicht erleben durften.
Ich habe im letzen Jahr eine Weiterbildung über Essstörungen für
zukünftige Fachärzte für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie abgehalten und wir kamen auf das
Thema
Prävention zu sprechen. Ich war diesbezüglich voller Elan, worauf
ein Kollege nur trocken
kommentierte: "Es stimme ja was ich sagen würde, aber dazu müsste
ich ja die Gesellschaft
ändern, und das würde sowieso nichts…"
Nun ist die Frage, ob wir uns tatsächlich resigniert zurücklehnen
wollen, oder doch unsere tiefe innere in uns verwurzelte Verantwortungskraft
und Lebensbejahung nutzen sollten, um
Impulse zu geben, Schritte zu gehen und das Wagnis auf uns zu nehmen, nicht
immer mit
dem Strom zu schwimmen. Klar kostet das Mut und trifft bestimmt nicht überall
gleich auf
Begeisterung, sondern eher vielleicht auf Misstrauen, Gegenwind, Skeptiker und
Kritiker.
Auch meine Zeilen treffen vielleicht erstmal auf eine Grenze mit Widerstand
und Gegenargumenten.
Für mich entscheidend ist es, einen Weg zu finden, präventiv seelischen
Erkrankungen
entgegenzuwirken. Informationen sind hilfreich, aber längst nicht ausreichend.
Wir müssen
unseren Kindern ihre Liebenswertheit authentisch spiegeln und sie im Leben herzlich
willkommen heißen, von der ersten Sekunde an, so wie sie sind. Wir müssen
vorleben, sie
reflektieren, mitschwingen, Gefühl strömen lassen und Vertrauen, Achtung
und Respekt
schenken.
Aber haben wir das denn erlebt und können wir es weitergeben?
Geboren werden wir nicht mit seelischen Erkrankungen. Vielleicht sind einige
Menschen
dafür genetisch mehr prädestiniert als andere, aber es handelt sich
mit Sicherheit nicht
um angeborene Erkrankungen, die unausweichlich ausbrechen. Sicher ist auch,
dass die
Kindheitsjahre besonders entscheidend sind und dass psychische Auffälligkeiten
durch
misslungene Beziehungen, fehlende positive Vorbilder und durch alle erlebten
und erlernten
unstrukturierten, lieblosen Erfahrungen in dieser Zeit bedingt werden.
Wenn man das weiterdenkt, kann man nur zum Schluss kommen, dass wir den Ausbruch
und die Entwicklung der Erkrankungen nur verhindern können, indem wir die
Bedingungen
so gestalten, dass diese Hilfeschreie nicht mehr notwendig sind.
"Jeder hält die Grenzen des eigenen Gesichtsfelds für die
Grenzen der Welt."
(Arthur Schopenhauer (1788-1860))
Wir sollten uns trauen, uns selber nach unserer Lebensweise, unseren inneren
Haltungen,
unserem Umgang mit den Kindern, Jugendlichen und den Mitmenschen zu fragen.
Wie
sind wir denn aufgewachsen? Was haben wir vermisst? Was wollten wir bestimmt
nicht
weitergeben und tun es trotzdem? Was stellen wir für Anforderungen an die
nächsten Generationen?
Welchen Leistungs- und Perfektionsdruck fordern wir? Wie lieben wir? Wofür?
Benutzen wir Liebesentzug als Strafe? Haben wir nicht auch Schwächen? Können
wir sagen,
das kenne oder kann ich nicht? Können wir Hilfe annehmen? Hinter welchen
Mauern
verstecken wir uns? Dürfen Emotionen sein? Oder tun wir schnell vieles
als Gefühlsduselei
ab? Sind wir eigentlich wirklich autonom, authentisch, offen, verständnisvoll?
Können wir
wirklich zuhören und warum tun wir es so selten? Sind wir nicht ständig
auf der Hut, voller
Misstrauen und Missgunst? Und was steckt dahinter? Eigene Ängste? Selbstwertzweifel,
die wir vertuschen müssen durch Leistung, Titel, Muskelmasse, Anpassung,
Quantität anstatt
Qualität?
Wäre es nicht möglich, uns durch Selbstreflektion in unserer Haltung
gegenüber anderen
zu ändern und dadurch wirklich achtsam hinsehen, hinhören und hinfühlen
zu können? Mit
einem eigenen liebenswerten Selbst dem Gegenüber wirklich zu begegnen?
Vor allem in
den Familien wäre das entscheidend.
Was heißt das jetzt konkret?
Wir müssen unseren Blickwinkel ändern. Und zwar vor der Geburt oder
spätestens mit der
Geburt der Kinder. Für sie ist Vertrauen, Sein- dürfen und Geliebtwerden
ganz existentiell.
"Liebe besteht nicht darin, dass man einander ansieht, sondern dass
man gemeinsam in
die gleiche Richtung blickt."
(Antoine de Saint-Exupéry (1900-44))
Und das müssen wir alle gemeinsam. Überall und immer wieder mit der größten Transparenz und Ehrlichkeit auf dem Boden unseres Mitgefühls unseren Mitmenschen gegenüber.
Wir fragen uns, wie das möglich sein soll? In dieser heutigen Zeit? Mit all den Problemen wie Arbeitsplatznot, finanziellen Nöten, zerstörten und zerstrittenen Familien, unzufriedenen Partnerschaften, eigenen Erkrankungen und Einsamkeiten im Umkreis und Kriegen, Selbstmordattentätern, Kriminalität in der Welt, die das Leben unsicher, unberechenbar, unglücklich und perspektivlos machen? Wir alle sind in der heutigen Zeit beunruhigt, verunsichert und unserer Rolle unklar.
"Naturwissenschaftler wissen genau, wie zwei Atome in einem Molekül
zusammengehalten
werden. Was aber hält unsere Gesellschaft zusammen?"
(Elisabeth Noelle-Neumann (*1916))
Die Menschen mit Essstörungen symbolisieren wie kaum eine andere Gruppierung die emotionale Beziehungslosigkeit und den emotionalen Hunger unserer Gesellschaft und sind auf der Suche nach Halt, Sicherheit, Geborgenheit, Wärme, Verlass und Mitmenschlichkeit und finden dies vermeintlich im Essen.
Wir sollten unsere in der Tiefe verankerten menschlichen Qualitäten wiederentdecken, die sich unter unseren massiven Ängsten vor Abwertung, Demütigungen, Schuldgefühlen und Verlusten und Misstrauen bei immer höherem Leistungs-, Wissens- und Perfektionsdruck sowie Wertvorstellungen, die sich an der äußeren Fassade orientieren, verdeckt halten. Emotionales und empathisches Verständnis, Verstehen wollen, Zuhören können, ein Miteinander leben, Achtung und gegenseitiger Respekt sollten wieder an die Oberfläche gelangen dürfen.
"Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer
zusammen, um Holz zu beschaffen,
Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht
nach dem weiten, endlosen Meer."
(Antoine de Saint-Exupéry (1900-44))
Ziel ist eine zwischenmenschliche emotionale Matrix, besonders innerhalb der
Familien,
die verbindend, Halt und Wärme gebend ist und das tragende Fundament der
Entwicklung
der individuellen Lebendigkeit und Liebesfähigkeit ist.
Lassen Sie uns beginnen, uns von unseren teilweise engstirnigen Mustern und
Ansprüchen
zu lösen, uns selbst zu reflektieren, aktiv zu werden und uns für
die Veränderung und
den wahren Fortschritt einzusetzen.
Wir brauchen einen Wertewandel aus unserem tiefen Inneren heraus, um Selbstvertrauen
und Selbstwertgefühl zu erleben und weiterzugeben und uns gegenseitig emotional
zu
sättigen.
"Sich um die Liebe zu betrügen ist der fürchterlichste
Betrug; es ist ein ewiger Verlust, der
sich nie ersetzen lässt, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit."
(S¦ren Kierkegaard (1813-55))
Gefragt sind wir als Gesellschaft und zwar jeder einzelne. Die Menschen um
sich herum
wahrnehmen, Hingucken, Hinhören, ihnen mit Respekt, Achtung und Ernst begegnen,
Verstehen
wollen und eigene Authentizität könnten wieder emotionale Bindungen
schaffen, die
auf Vertrauen basieren. Menschen, die von seelischen Erkrankungen betroffen
sind, oder
deren Angehörigen darauf ansprechen ohne Wertung sondern mit Wohlwollen,
könnten
zu Transparenz führen. Das Wissen, um den Symbolcharakter der Symptomatik,
der entschlüsselt
und übersetzt werden muss, könnte die schwierige Lage entschärfen.
Dabei
sind die eigene Selbstreflektion und das Vorleben von menschlichen Werten von
enormer
Bedeutung.
Den Kindern ihre Liebenswertheit spüren lassen, so wie sie sind, sie fördern,
ohne Liebesentzug
und Überstülpen von eigenen Vorstellungen und ihnen Selbstvertrauen
und Selbstwert
vermitteln, ist unsere Aufgabe und Pflicht.
"Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange
es noch ein unglückliches
Kind auf Erden gibt."
(Albert Einstein (1879-1955))
Sinn ist, etwas in der Gesellschaft bewegen zu wollen und sich gegenseitig zu helfen, die Verletzungen zu überwinden.