Schwerpunkt - Praxis für Essstörungen
Gemeinsam Essstörungen verstehen und bewältigen
Einleitung
Menschen mit Essstörungen sind oft voller Scham-, Schuld- und Versagensgefühle, sozial isoliert, haltlos, voller Selbstwertzweifel und Selbstdestruktion. Ihr täglicher Kampf besteht häufig darin, ihre äußere Fassade aufrecht zu erhalten, perfekt zu erscheinen, ein Konstrukt, um ihren für sich erlebten inneren Defekt zu übertünchen.
Das Ausmaß einer Essstörung reicht in jeden Lebensbereich hinein
und steuert die gesamte
Entwicklung und den Lebensweg der Betroffenen. Körperliche Zerstörung
mit schwersten
Folgeerkrankungen, seelische Folgeerkrankungen mit Suiziden, Depressionen, Ängsten
etc., soziale Folgen mit Einsamkeit, Jobverlust, Schulden und Kriminalität
sind oft unausweichlich.
Krankheitsverläufe über 20 Jahre sind keine Seltenheit. Essstörungen
sind die
psychosomatische Erkrankung mit der höchsten Letalitätsquote. Es ist
ein Circulus vitiosus
mit Suchtcharakter, deren Heftigkeit und zerstörerische Gewalt sich die
Betroffenen ohnmächtig
ausgeliefert fühlen.
Essstörungen selber sind meist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Unter
der akuten
Symptomatik verbergen sind Selbstwertprobleme, Beziehungs- und Kontaktängste,
sowie
Fragen nach dem Lebenssinn und der eigenen Identität bei höchstem
Leistungs- und Perfektionsanspruch
an sich selbst. Auch wenn die Symptomatik im Griff scheint, so ist daher
das Dilemma noch längst nicht bewältigt. Lange Krankheitsverläufe
und mehrfache ambulante
und / oder stationäre Therapieversuche sind keine Seltenheit.
Praxisstruktur
Als Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytikerin
und
Ernährungsmedizinerin habe ich seit 2,5 Jahren eine Schwerpunkt-Praxis
für Menschen mit
Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge Eating Disorder)
mit derzeit 40
Patientinnen im Alter von 18 bis 56 Jahren und kann so die für diese Patientengruppe
bedeutsamen
körperlichen, seelischen und sozialen Aspekte im Schweregrad einschätzen,
in Zusammenhänge bringen, integrieren und vermitteln.
Für mich hat sich bisher gezeigt, dass das Entscheidenste ist, wirklich
für die Betroffenen
individuell da zu sein und sich auf einen authentischen, vertrauenswürdigen
Kontakt einzulassen.
Das bedeutet aber auch ein umfassendes, zuverlässiges und sehr flexibles
Therapiekonzept
anzubieten, das sich an den Patientinnen und deren Prozess variabel orientieren
kann.
Zu Beginn wie auch während der Bandlung ist die körperliche Verfassung der Betroffenen immer in meinem Blickfeld und wird thematisiert, um nötigenfalls Konsequenzen einzuleiten. Eine enge Zusammenarbeit mit den Hausärzten zwecks Labor, Ekg etc., den Gynäkologen, Zahnärzten und gegebenenfalls anderen Fachärzten ist unabdingbar.
Jeder Patientin zeige ich von Anfang an die Möglichkeiten meiner Praxisstruktur auf, die sie für sich nutzen kann. Dazu gehören neben der Einzeltherapie (auch analytisches Setting), eine wöchentliche Gruppentherapie nur für Frauen mit Essstörungen (derzeit zwei Gruppen für die 18- ca. 25- Jährigen, drei für die Frauen ab ca. 26 Jahren), 10-, 20-, 30, 40-,…-Minuten-Zusatz-Termine, Telefonate, in der Not das Besprechen meines Anrufbeantworters (oft nachts) oder auch E- Mails, auf die ich aber nur kurz antworte und die wir dann in den Stunden gemeinsam besprechen, Familien- und Paargespräche sowie Eltern- Patientinnen- Gruppen.
Bewährt hat sich für mich vorrangig die Kombination aus einer Einzeltherapie
und einer wöchentlichen
Gruppentherapie (wenn Gruppenfähigkeit besteht) über mindestens 2
Jahre.
Zusätzliche Termine vereinbare ich sehr spontan und dem Prozess entsprechend
mit den
Betroffenen. Ungemein hilfreich ist es beispielsweise, die Frequenz der Kontakte
besonders
am Anfang der Therapie, aber auch in Krisenzeiten flexibel und höher frequent
zu gestalten
oder auch kurze Telefonate zu nutzen, um dem Suchtcharakter der Erkrankung,
depressiven
Einbrüchen, Ängsten, Spannungszuständen, Leeregefühlen und
anfänglichem
Gefühlschaos zu begegnen.
Soweit die Angehörigen bereit sind, führe ich regelmäßige
Familien- und Paargespräche
und habe eine Gruppe aus mehreren Eltern und den Betroffenen, die sich aus den
Langzeitgruppen
kennen, gebildet. Den Eltern fällt es wesentlich leichter erstmal anderen
Betroffenen
zuzuhören. Sie haben dort auch die Möglichkeit sich über ihren
eigenen Lebensweg
mit anderen Eltern auszutauschen, was für alle sehr hilfreich ist.
Ernährungsmedizinische Informationen, der Umgang mit dem "Suchtdruck"
(verhaltenstherapeutische
Elemente spielen hier auch eine Rolle, jedoch keine Essprotokolle oder
Gewichtsverträge) und die den Bedürfnissen des eigenen Körpers
entsprechende Wahl
von Nahrungsmitteln, das Gefühl für Hunger, Sättigung und Genuss
werden konsequent im
Kontext der jeweiligen Essstörung mit der Betroffenen besprochen.
Ziele
Die Patientinnen sitzen hier anfangs oft achselzuckend, ohne Sinngefühl,
Visionen oder
Ziele. Sie erleben eine große Leere in sich selbst. Ihr Potenzial ist
für sie nicht spürbar.
Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach der Lebendigkeit, den Energien, der Kreativität,
den Meinungen, Fragen, Ideen, den Emotionen und der Herzenswärme. Wieder
spüren,was der Körper auch physiologisch braucht, ein Gefühl
für Bedürfnisse und Wünsche bekommen,
Gefühle erleben und ausdrücken dürfen, beherzt JA- und NEIN-
sagen können,
anstatt Anpassung Positionierung, ein Selbstgefühl mit individueller Identität
und Liebesfähigkeit
entwickeln sind zugegebenermaßen hohe Ziele, aber notwendig. Emotionale
Sättigung
erfolgt dann durch emotionale Kontakte und aus dem Selbst heraus. Der Drang
die Leere und die gefühlten massiven Selbstwertmängel durch essen
oder nicht- essen
scheinbar zu befriedigen wird überflüssig.
Das Potenzial dieser Menschen freizusetzen gelingt aber vor allem in einem Miteinander
und in der gegenseitigen Spiegelung, Annahme und dem Verstehen wollen, genau
den "Menschlichkeiten", die den Betroffenen in den Familien nur unzureichend
entgegengebracht wurden. Dieses WIR-Gefühl kann sich gerade in den Langzeitgruppen
entfalten, in denen neben dem Nicht-Alleinsein mit der Erkrankung, dem Verständnis
und der gegenseitigen Unterstützung aber auch Grenzsetzung, Konflikte ausgetragen
und Übertragungen aufgelöst werden können, ohne dass das WIR
zerstört wird. Gerade die Jüngeren holen ihre Peergroup- Erfahrungen
nach und entwickeln lebbare Visionen, Ziele und Sinninhalte, die wiederum zur
Bewältigung der Essstörung notwendig sind.
Für viele ist ihre Essstörung ihr einziger scheinbarer Halt, die beste
Freundin, die Geborgenheit
gibt und zuverlässig ist. Sie ziehen ihr ganzes Selbstwertgefühl daraus,
stopfen ihre innere
Leere und deckeln "verbotene" Gefühle zu. Sie werten sich massiv
ab und verachten
sich nicht nur äußerlich zutiefst und zeigen dies ganz körperlich
anhand ihrer Symptomatik.
Wir können es ihnen nicht wegnehmen, sondern müssen die Symptomatik
immer wieder
zusammen mit den Betroffenen entcodieren, übersetzen und entschlüsseln.
So verstehen
wir gemeinsam, was sie damit ausdrücken wollen. Problematisch ist der Suchtcharakter
der
Essstörung. Auch dieser muss mit den Betroffenen deutlich besprochen werden.
Die Sucht
sind nicht sie selber, sondern wie ein Dämon, der sie in die Knie zwingt,
der aber, wenn er
als solcher verstanden, harmlos wird. Dazu gehört aber eine gute Portion
Wille, Motivation,
Grenzen und vor allem eine Perspektive und Ziele, für die sich dieser Weg
lohnt.
Resümee
Die Menschen mit Essstörungen symbolisieren wie kaum eine andere Gruppierung
die
emotionale Beziehungslosigkeit und den emotionalen Hunger unserer Gesellschaft
und
sind auf der Suche nach Halt, Sicherheit, Geborgenheit, Wärme, Verlass
und Mitmenschlichkeit
und finden dies vermeintlich im Essen. Sie demonstrieren den tiefen Lebenshunger,
der auch ausdrückt, was sie gebraucht hätten und was sie zur Genesung
brauchen: Vertrauen
und Sein- dürfen.
Der Status Quo in der Versorgung von Menschen mit Essstörungen und der
Prävention
von Anorexie, Bulimie und Binge Eating Disorder ist alles andere als ausreichend.
Je offener und transparenter mit Essstörungen umgegangen wird, desto mehr
Chancen gibt
es, diesen vorzubeugen, sie zu erkennen, frühzeitig zu behandeln und Schlimmeres
zu
verhindern.
Primärprävention von Essstörungen würde die Förderung
einer zwischenmenschlichen
emotionalen Matrix besonders innerhalb der Familien bedeuten, die verbindend,
Halt und
Wärme gebend ist und das Fundament für die Entwicklung der individuellen
Lebendigkeit
und Liebesfähigkeit sein kann und wäre dringend notwendig.