Befreiung aus der "Psycho- Falle"

Sieben Jahre Medizinstudium, fünf Jahre Facharztausbildung: der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Mit einem Jahr Innere Medizin, einem Jahr Psychiatrie, drei Jahren Psychosomatische Medizin und dem Absolvieren von zahlreichen Therapiestunden im Einzel- und Gruppensetting, Supervisionen, Balintgruppen, Selbsterfahrungszeiten und Theorieseminaren ein doch trotz erheblichem Zeit-, Energie- und Geldaufwand verbundenes idealistisches aber lohnenswertes Ziel, so denkt man sich… Und dann endlich der Facharzttitel, der in die ersehnte Autonomie der Niederlassung führen soll!

Aber was für ein Irrtum!! Denn hier schlägt die „Psycho- Falle“ zu!

Die Bedingungen sind so: 561150 Punkte für Richtlinienpsychotherapie mit dem Punktwert von 4,423Cent (darüber mit ungestütztem Punktwert) und ca. 35000 Punkte (angelehnt an den Fachgruppendurchschnitt) Facharztleistungen (Individualbudget) für Neupraxen mit floatendem Punktwert.

Das ist leider kein Scherz sondern pure Amputation der psychosomatischen Schnittstellenkompetenz, die die Psychosomatiker in ihrer Handlungsfreiheit zu psychologischen Psychotherapeuten macht, diese allerdings dazu auch noch eine wesentlich kürzere Ausbildung haben.

Die große Kunst des Psychosomatikers besteht doch unter den Bedingungen derzeit nun darin, die Patientinnen und Patienten in das Raster von Kurz-, Langzeittherapien und gegebenenfalls Psychoanalyse im Einzel- oder Gruppensetting zu „quetschen“, egal ob das sinnvoll ist oder nicht. Kritisch betrachtet folgen daraus häufig zu kurze oder zu lange, zu nieder- oder zu hochfrequenten Behandlungen, genormt im Einzelsetting auf 50 Minuten, (25 Minuten sind erlaubt), im Gruppensetting auf 1oo Minuten, zum anderen die Ablehnung oder Bagatellisierung von schwerer erkrankten Menschen, da diese Anträge logischerweise durch die Gutachter abgelehnt werden müssen.

Eigentlich aber haben sich die Psychosomatiker doch auf die Fahne geschrieben, störungsspezifisch zu behandeln und das Individuum im Ganzen im Focus zu sehen. Aber dies ist im derzeitigen Gefängnis der Richtlinien völlig unmöglich.

Die Facharztleistungen des Kapitels 22 EBM 2000+ klingen viel versprechend, sind allerdings bei genauer Betrachtungsweise auch nur eine Farce. Bei 35 000 Punkten gehen schon durch den Ordinations- und den Konsultationskomplex zahlreiche Punkte „verloren“, dazu kommen noch Anträge und Arztbriefe. Was bleibt da noch übrig? Vielleicht einige probatorische Sitzungen im Quartal, das war`s.

Fazit: endlose Wartezeiten der PatientInnen selbst für ein diagnostisches Gespräch geschweige denn für eine kontinuierliche Behandlung, was erstens zu Folge hat, dass sie den Hausärzten die Praxen einrennen oder von Facharzt zu Facharzt laufen, wo ihnen aber nur unzureichend geholfen werden kann und zweitens, dass die Psychosomatiker von den anderen Fachgruppen kaum wahr und ernst genommen werden, da sie ja sowieso keine Behandlungskapazitäten haben und damit nicht als verlässliche Ansprechpartner gelten.

Unterm Strich ist das gesundheitsökonomisch ein Desaster.

Die Psychosomatiker haben das Potenzial der Schnittstellenkompetenz, das sich aber erst entfalten kann, wenn sie sich in ihrer Behandlungsform nicht mehr in vorgegebene Zeitmuster und Gutachterverfahren einzwängen lassen. Erst dann können sie die Menschen breit gefächert und individuell nachhaltig versorgen.

Menschen in akuten Krisen, mit Suchtproblematiken, Schmerzen, Borderline- Syndrom, somatoformen Störungen oder somatopsychischen Erkrankungen… Was nützen da zeitraubende Gutacherverfahren, festgefahrene 50 Minuten mit Plausibilitätszeiten, die sich an 70 Minuten pro Stunde orientieren?

Wir brauchen Variabilität, patientenspezifische Behandlungen und die Möglichkeit von Sprechstunden, wie jeder andere Arzt auch.

Das Berliner Modellabrechnungsprojekt, das im Juli 2007 begann, ist ein erster Schritt aus dieser „Psycho- Falle“, die unsere Kompetenz bisher unterminiert und verzerrt und unsere ärztliche Identität erstickt hat. Das neue Budget pro Quartal entsteht aus der Summe der in den einzelnen Quartalen 2006 vergüteten Richtlinienleistungen und dem in dem jeweiligen Quartal vergüteten Individualbudget und kann nun je nach Bedarf durch das Kapitel 35. 2 oder das Kapitel 22 genutzt werden. Da Kostenneutralität gewahrt werden muss, liegen die Punktwerte für beide Kapitel niedriger und hängen von den eingebrachten Punkteverteilungen der Teilnehmer ab.

Mit diesem Abrechnungsmodell kann der Alltag plötzlich so aussehen:

  1. P. mit massiv ausgeprägter Bulimia nervosa, 20 Min (anfangs 3 / Woche)
    22221,22221,22215
  2. P mit somatoformer autonomer Funktionsstörung des HKS, Trennungskonflikt, 40 Min.
    22221,22221,22221,22221,22215
  3. P. mit Insomnie, Paargespräch, 60Min., (alle 2 Wochen)
    22221,22221,22221,22221,22221,22221,22215
  4. P. Kontaktängsten, Psychoanalyse 50 Min. (2 / Woche)
    35210,22215
  5. P. mit Anpassungsstörung, TP, 50 Min.(1 / Woche)
    35201,22215
  6. P. mit depressiver Selbstwertkrise, 30 Min. (2 / Woche)
    22221,22221,22221,22215
  7. Diagnostisches Gespräch, 60 Min.
    22220,22220,22220,22220,22220,22220,22215
  8. P. mit MS Schub, 30 Min (Zusatztermin zu TP)
    22221,22221,22221,22215
  9. P. mit Angstsymptomatik, 30 Min, (an einem anderen Tag auch in einer Gruppe)
    22221,22221,22221,22215
  10. Psychosomatische Gruppe/ 8 Teilnehmer, 80 Min. (1 / Woche)
    (22222, 22222,22215) x8
  11. Arztbrief (siehe 07)
    06100,40120

Eine Fallzahl von 17, eine reine Therapiezeit von 450 Minuten und eine Plausibilitätszeit von 525 Minuten sind die Bilanz einer der ersten Tage des Praxismodells und sicherlich erst der Anfang der Veränderung, die mit einer massiven inneren Umwälzung und Haltung einhergeht, die wie jeder andere Ausbruch aus einer Erstarrung auch Angst macht. Denn auch in diesem Modell sind Grenzen spürbar: Grenzen der Budgetlimitierung, das heißt der Unmöglichkeit des Praxiswachstums und Grenzen der Honorierung in form von niedrigen Punktwerten für Richtlinientherapie und Facharztleistungen, so dass bei gleicher Arbeitszeit mit Einbußen zu rechnen ist, auch wenn weniger Anträge anfallen.

Die gewollte Änderung der Praxisstruktur mit deutlich erhöhter Fallzahl und mehr Flexibilität bedarf natürlich auch einer höheren logistischen Koordination und ist langfristig nur mit Sprechstundenhilfe und Vergrößerung der Praxisfläche zu meistern, was aber bisher in die Betriebskosten nicht mit einging. Die Forderungen müssen zukünftig dahin gehend erweitert werden, um endlich eine Gleichstellung mit anderen Fachärzten und speziell mit den Psychiatern zu erlangen.

Das Ziel dieses Abrechnungsmodells, das eine erste Praxisstrukturänderung zulässt und die Qualität der Psychosomatischen Medizin erstmalig annähernd abbildet ist, unsere breite Versorgungsvielfalt und -kompetenz zu beweisen, die auch gesundheitsökonomisch sinnvoll ist, um im EBM 2009 ein adäquates ärztliches Abrechnungssystem zu erhalten.

Mein Dank richtet sich an alle Kolleginnen und Kollegen, die trotz der Unsicherheiten und möglicher finanzieller Einbußen an dem Modell teilnehmen. Sie tun dies aus einer ärztlichen Haltung heraus und dem Wissen um die Brisanz der derzeitigen gesundheitspolitischen Situation, die sofortiges Handeln unumgänglich macht, um die Zukunft der Psychosomatischen Medizin zu gewährleisten, für die gesamte Fachgruppe.

Dr. med. Anna Goeldel

(Zeitschrift „Ärztliche Psychotherapie“)

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