Essstörungen

Meiner Erfahrung nach wird die Schwere und das Ausmaß einer Essstörung häufig unterschätzt, im Besonderen deren ausgeprägter Suchtcharakter. Viele Menschen fühlen sich beispielsweise den scheinbar unkontrollierbaren Esssanfälle völlig ausgeliefert oder auch ihren Gedanken, die sich ständig um das Essen drehen. Eine wirklich langfristige Gesundung kann in vielen Fällen oft nur mit einem umfassenden differenzierten individuellen Therapiekonzept erreicht werden, zu Beispiel bestehend aus einer fundierten tiefenpsychologischen Therapie, dazu begleitend einem auf den einzelnen abgestimmtes Ernährungscoaching, mit spezieller Berücksichtigung des Suchtcharakters der Essstörung.

Als Anregung hier folgende Fragen, die Inhalt der Behandlung sein könnten:

  • Welche Funktion hat die Symptomatik? Wozu brauche ich sie?
  • Gibt es Zusammenhänge zwischen der Erkrankung und Erfahrungen oder Prägungen aus der eigenen Lebensgeschichte? Was ist mir passiert?
  • Wie könnten die Symptome entfunktionalisiert werden?
  • Was ist Sucht? Hat sich die Symptomatik verselbständigt? Wie sieht das bei mir eventuell aus? Wie kann ich diesem Kreislauf begegnen?
  • Wie äußern sich meine Gefühle, Wünsche, Visionen und Träume? Dürfen sie sein?
  • Wie bin ich eigentlich ohne Essstörung? Wie sieht meine eigene Identität aus?
  • Wie kann ich gesund, unbeschwert und genussvoll meinem eigenen Bedarf angepasst mit Nahrungsmitteln umgehen?
  • Wie sieht mein soziales Umfeld aus? Gibt es eins? Wie beeinträchtigt ist es durch mein Essverhalten? Wie alleine bin ich?

In der Behandlung von Menschen mit einer Alkoholerkrankung wurde seit langem die Notwendigkeit der Nachsorge, wie sie flächendeckend in den zahlreichen Gruppen für anonyme Alkoholiker angeboten wird, erkannt. Für Menschen mit Essstörungen wären Nachsorge- Anlaufstellen auch extrem wichtig, besonders weil sie, was sehr schwierig ist mit ihrem "Suchtmittel" auch noch einen gesunden, genussvollen Umgang finden müssen, da Abstinenz natürlich nicht möglich ist. Auch wenn Sie es geschafft haben die akute Symptomatik zu überwinden, ist es oft immer noch ein Kampf gegen die Sucht mit ständig kreisenden Gedanken um das Essen, krampfhafter Kontrolle mit wenig Unbeschwertheit und Genuss. Rückfälle bleiben nicht aus, Wechsel zwischen verschiedenen Symptomen sind häufig. Faule Arrangements und Selbstbetrug schleichen sich immer wieder ein. Das Essensthema beeinträchtigt weiterhin maßgeblich den gesamten Alltag, die sozialen Kontakte und Beziehungen, anstatt zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden beizutragen. Es blockiert die Entwicklung der eigenen Identität und das Wahrnehmen innerer Wünsche.

Von Essstörungen sind zunehmend auch immer mehr Männer betroffen. In der Öffentlichkeit gelten Anorexie, Bulimie und Adipositas nach wie vor eher als „feminine“ Erkrankungen, so dass auch schwere Essstörungen bei Männern häufig nicht identifiziert und verkannt werden. Auch reagiert das soziale Umfeld oft noch unverständlicher als bei betroffenen Frauen und stempelt die Betroffenen mit undifferenzierten Vorurteilen ab. So ist es für die Männer selber auch schwer, sich ihrer Erkrankung bewusst zu werden und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gerade ein Austausch untereinander in einer Gruppe ist sehr hilfreich, entlastend und ermutigend, um sich gemeinsam den Problemen und Ursachen zu stellen.